132 Auff Herren David Müllers geliebten Töchterleins Annen Magdalenen […] absterben

132 Auff Herren David Müllers geliebten Töchterleins Annen Magdalenen [...] absterben

1632 Dü 138 Sz 143

Martin Opitz: Funebria, Beatae Trium, Davidis Mülleri […]. Brieg: Augustin Gründer 1632, Fol. D4r–D4v. (a). (VD17 1:633335S).

Wieder abgedruckt in:

Unter dem Titel: Auch an Jhn. In: Martin Opitz: Weltliche Poemata. Der Ander Theil […]. Frankfurt am Main: Thomas Matthias Götze 1644, S. 162–163. (F). (VD17 23:248428E).

Moderne Ausgabe:

Unter dem Titel: Auch an Jhn. In: Martin Opitz: Weltliche Poemata 1644. Zweiter Teil. Mit einem Anhang: Florilegium variorum epigrammatum. Unter Mitwirkung von Irmgard Böttcher und Marian Szyrocki hrsg. v. Erich Trunz. Tübingen 1975, S. 162–163.

In den späteren Ausgaben, die das Epikedion unter den Titel »Auch an Jhn« stellen, ist der Adressat der Großvater des Mädchens, David Rhenisch. Anna Magdalena ist wahrscheinlich am 21. Mai 1622 im Alter von einem Jahr und fünf Monaten gestorben. Das Gedicht findet sich ebenso wie die Trauerdichtung auf die Geschwister David Müller d. J. und Karl Sigismund in einem Sammeldruck, der Obituaria auf Mitglieder der Familie Müller enthält.

Das Epikedion umfasst fünf achtzeilige Strophen aus je acht jambischen Dreihebern; damit repräsentiert es den »[h]äufigste[n] Achtzeiler der deutschen Dichtung« (Frank 1993, Nr. 8.7, 573). Paul Gerhardt wird diese Form (die auf den »Hildebrantston« zurückgeht) durch seine Hymnen-Übersetzung »O Haupt voll Blut und Wunden« (»Salve caput cruentatum«) bekannt machen. Die Strophe ist sehr verbreitet seit der Reformation, insbesondere im Hugenottenpsalter. Opitz verwendete sie für seine Bearbeitungen des 128. Psalms (»Schaut, daß ihr von euch leget«) in den »Sonntagsepisteln« und im 130. Psalm (»Das blinde Volk der Heiden«).

Die ersten beiden Strophen sind freie Übersetzung von Horaz, Carmina 3, 3, 1–8:

Iustum et tenacem propositi virumNon civium ardor prava iubentium, Non voltus instantis tyranni Mente quatit solida neque Auster,

Dux inquieti turbidus Hadriae,Nec fulminantis magna manus Iovis: Si fractus inlabatur orbis, Inpavidum ferient ruinae.

Dem Mann des Rechts, der fest am Entschlusse hält, Macht nicht die Volkswut, die ihn zum Schlechten drängt, Nicht eines Zwingherrn drohend Antlitz Wanken den stetigen Mut, der Süd nicht;

Der wilde Herr der stürmischen Hadria,Nicht Jovis blitzeschleudernder, starker Arm, Selbst wenn der Weltbau krachend einstürzt, Treffen die Trümmer noch einen Helden.

(Färber/Schöne 1982, 113–115)

Auf den Spuren des Horaz entfaltet Opitz’ Gedicht einen ›schulmäßigen‹ christlichen Neostoizismus, der zu ›constantia‹ (v. 2: »steiffem hertzen«) und ›patientia‹ (v. 40: »gedult«) aufruft, um ›Sicherheit‹ und »hertzens-rhue« (v. 34; d. h. die ›tranquillitas animi‹) zu erlangen. Gott selbst kann die Schwere des Verlustes aufgrund des Opfers Jesu ermessen (Str. 3). Erst die vierte Strophe wendet sich – mit wenigen Worten – dem Tod des Müller’schen Kindes zu, das schon aufgrund seines Alters kaum individuelle Kontur gewinnt, weshalb Opitz das Gedicht später leicht auf den Großvater umwidmen konnte. Trost spendet die Gewissheit, dass die Seele des Kindes unsterblich bei Gott lebt. Das Gedicht schließt mit einer Mahnung, die Unausweichlichkeit des Leidens mit »gedult« zu ertragen.

Frank, Horst Joachim: Handbuch der deutschen Strophenformen. Tübingen / Basel 21993.

Graf, Fritz / Anne Ley: Iuppiter. In: DNP online 2006 http://dx.doi.org/10.1163/1574-9347_dnp_e603790 [5. 9. 2018].

[[D4]r]

Auff Herren David Müllers | geliebten Töchterleins | Annen Magdalenen | Früzeitiges doch seliges absterben.

EJn Geist der Christen-sinnen Jn steiffem hertzen hattLeßt sich kein ding gewinnen⧸ Bleibt stets auff einer stat⧸Bey jhm ist nie zue spüren Die angst für Tyranney ⧸Durch schädliches verführen Kömpt jhm kein Bürger bey.

5

[D4v]

Wann Jupiter gleich schläget Mit allen Keilen her⧸ So bleibt er vnbeweget⧸ Setzt fort durch Sturm vnd Meer⧸Vnd solte gleich die hüte Der Welt zu grunde gehn⧸So wird doch sein gemüte Darunter sicher stehn.

10

15

Wann Gott dann an den seinen Was Menschlichs etwan thut⧸So pflegt er zwar zue Weinen⧸ Denckt an sein fleisch vnd Blut;Doch zittern vnd verzagen Jst von jhm also weit⧸So weit die so wir klagen Sindt von der sterbligkeit.

20

25

Was hat er euch genommen⧸ Mein Freund? ein liebes kindt.Wohin dann ist es kommen? Wo keine leichen sindt⧸Wo alle seelen schweben Die er der höchste liebt⧸ Vnd euch wird wieder geben Was ewren sinn betrübt.

30

So wechselt dann die sorgen Jn stille hertzens-rhue⧸Vnd glaubt⧸Gott schiecke Morgen Ein beßers glücke zue.Kein Mensch zwar aller enden Jst seinem schaden huldt;Doch was man nicht kan wenden Wirdt leichter durch gedult.

35

40

Martin Opitz.

Titel: Auch an Jhn. F Ferner fehlen in F die Einrückungen der geraden Verse, dafür ist jeweils der erste Vers einer Strophe mit Ausnahme der ersten eingerückt. 1 EJn Geist⧸ der Christen Sinnen F 2 Hertzen hat⧸ F 3 Ding F 4 stehts auff einer statt F

5 zu F 6 Die Angst für Tyranney; F 8 Bürge F 9 schleget F 10 Keylen F 13 Hüte F 14 Grunde F 15 Gemüte F 17 GOtt F 18 etwann F 19 zu weinen F 20 Fleisch F

24 Sind von der Sterbligkeit F 26 Kind F 28 Leichen sind F 29 Seelen leben F 30 Höchste F 31 wider F 32 Sinn F 33 Sorgen F 34 Hertzensruh F 35 GOtt schicke F 36 Euch newe Wolfahrt zu. F 37 Enden F 38 Schaden huld F 39 wenden⧸ F 40 Wird leichter durch Gedult. F

1–4 EJn Geist der Christen-sinnen … Bleibt stets auff einer stat] Neben der Horaz-Referenz (s. o.) klingen Bibelstellen an. Vgl. Röm 8, 5–10: »DEnn die da fleischlich sind⧸ die sind fleischlich gesinnet⧸ Die aber geistlich sind⧸ die sind geistlich gesinnet. Aber fleischlich gesinnet sein⧸ ist der Tod⧸ Vnd geistlich gesinnet sein⧸ ist leben vnd friede. […] So aber Christus in euch ist⧸ So ist der Leib zwar tod vmb der Sünde willen⧸ Der Geist aber ist das Leben⧸ vmb der Gerechtigkeit willen«.

2 steiffem] festem.

5–8 Bey jhm … kein Bürger bey] Vgl. Röm 8, 31: »Was wollen wir denn weiter sagen? Jst Gott fur vns⧸ Wer mag wider vns sein?«.

8 Kömpt jhm kein Bürger bey] Dunkle Stelle, daher die – unberechtigte – Korrektur von »Bürger« zu »Bürge« in F. Das Gemeinte wird mit Blick auf Horaz deutlich (Carmina 3, 3, 2: »Non civium ardor prava iubentium«).

9 f. Wann Jupiter gleich schläget | Mit allen Keilen her] Jupiter als römischer Himmelsgott verdankt sich der Vorlage (vgl. Horaz, Carmina 3, 3, 6); aber doch ergibt sich ein inhaltlicher Gewinn: Dem gnädigen Gott der Christen wird der zürnende heidnische Gott gegenübergestellt (vgl. Graf / Ley 2006).

12 Setzt fort durch Sturm vnd Meer] Vgl. Horaz, Carmina 3, 3, 5: »Dux inquieti turbidus Hadriae«. Opitz baut die Vorgabe im Sinne des Topos vom Leben als Seefahrt aus.

13 f. Vnd solte gleich die hüte | Der Welt zu grunde gehn] Das irdische Dasein wird mit dem himmlischen kontrastiert nach 2 Kor 5, 1: »WJr wissen aber⧸ so vnser jrdisch Haus dieser Hütten zubrochen wird⧸ das wir einen Baw haben von Gott erbawet⧸ ein Haus⧸ nicht mit henden gemacht⧸ das ewig ist im Himel«.

17 f. Wann Gott dann an den seinen | Was Menschlichs etwan thut] Gott fügt ›seinem‹ Volk – den Christen – Dinge zu, denen alle Menschen ausgesetzt sind. Obwohl der christliche Gott ein gnadenvoller und heilsversprechender Gott ist, verlangt er Opfer, die er zugleich betrauert. Das größte Opfer bringt er dabei selbst, indem er seinen eigenen Sohn zur Erlösung der Sünder opfert. Vgl. Jesu Worte in der Nacht vor der Kreuzigung (Mt 26, 36–41): »Vnd fieng an zu trawren vnd zu zagen. Da sprach Jhesus zu jnen⧸ Meine Seele ist betrübet bis an den Tod⧸ Bleibet hie⧸ vnd wachet mit mir. Vnd gieng hin ein wenig⧸ fiel nider auff sein Angesichte⧸ vnd betet⧸ vnd sprach⧸ Mein Vater⧸ Jsts müglich⧸ so gehe dieser Kelch von Mir⧸ Doch nicht wie Jch wil⧸ sondern wie Du wilt⧸ […] Der Geist ist willig⧸ Aber das Fleisch ist schwach.«

23 klagen] beklagen.

38 schaden huldt] Erleidet gerne einen Schaden.

40 Wirdt leichter durch gedult] Der Appell zur Geduld als Ausdauer in Jak 1, 3–4. Außerdem Röm 8, 25: »So wir aber des hoffen⧸ das wir nicht sehen⧸ So warten wir sein durch gedult«.




Zitierempfehlung:

, , in: Hybridedition der deutschsprachigen Werke des Martin Opitz. , hg. von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 2018ff. URL: (abgerufen am: )

Zitierempfehlung der Druckausgabe:

, , in: und (Hrsg.),