130 Auff Herren David Müllers geliebten Söhnleins Davidts Begräbnüß
1631 / 32 Dü 138 Sz 143
Auff Herren David Müllers geliebten Söhnleins Davidts Begräbnüß […]. O.O.: o. Dr. 1631 [Breslau: David Müller]. (a). (VD17 7:685349D).
Wieder abgedruckt in:
Martin Opitz: Funebria, Beatae Trium, Davidis Mülleri […]. Brieg: Augustin Gründer 1632, Fol. E2v–E3v. (b). (VD17 1:633335S).
Um den Textzusammenhang der Epikedien auf Angehörige der Familie Müller zu würdigen, folgt der Abdruck hier ausnahmsweise der revidierten Fassung b.
David Müller (* 1591 in Braunau, † 1636 in Breslau) war Opitz’ Verleger in Breslau; an seiner Biographie lässt sich gut erkennen, in welchem Maße die Buchhändler und Verleger in humanistische Gelehrtenkreise integriert waren (vgl. BW 1, 429). Den Buchhandel erlernte er bei David Albrecht und dessen Nachfolger Johann Eyring in Breslau. Müller gründete 1613 dort selbst eine Buchhandlung (vgl. Garber 2014, 184–190). Die Verbindung zur Bildungsschicht der Stadt wurde durch seine Eheschließung mit Maria Rhenisch, der Tochter des namhaften Predigers und Professors zu St. Elisabeth, David Rhenisch, am 12. Juni 1618 bekräftigt. Sie ist die Mutter des hier betrauerten Sohns, die bereits 1628 im Alter von 26 Jahren verstorben war. Opitz verfasste Epikedien auf weitere Kinder der Familie Müller, auf die zweite Ehefrau Maria und später auch auf David Müller selbst. Es finden sich jedoch auch Hochzeitscarmina und Geburtsgedichte. Opitz begleitete die Familie freundschaftlich (vgl. Wiedemann 2005, 997), äußerte jedoch auch Unmut über geschäftliche Versäumnisse seines Verlegers (vgl. BW 1, ep 251011). In der Ausgabe der Poemata von 1644 sind die Gelegenheitsgedichte an die Familie Müller in einem eigenen Abschnitt versammelt, der den Schluss des dritten Buches bildet (vgl. Trunz, 2, *7). Der hier vorliegende Text wurde dabei nicht aufgenommen.
Das Epikedion ist in einer sechszeiligen Schweifreimstrophe aus jambischen Vierhebern verfasst (vgl. Frank 1993 Nr. 6.34, 487–489), die Opitz bereits in der Poeterey für ein Sterbelied einsetzt (»Derselbe welcher diese nacht⧸ Erst hat sein leben hingebracht«, vgl. GW 2, 1, 402 f.). In seiner Hoheliedparaphrase verwendet er diese Form, die aus der Rezeption des französischen Hugenottenpsalters (Schede, Fischart) bekannt war, für das vierte Lied (»Mein Lieb, wie schöne bist du doch«). Opitz’ Beispiel folgend greifen Fleming, Birken und noch Günther mit Vorliebe auf diese Form zurück.
Das sehr persönlich gehaltene Lied folgt dem topischen Aufbau des Epikedions (›laudatio‹ – ›lamentatio‹ – ›consolatio‹); plastisch wird der Moment eingefangen, in dem sich die Trauergemeinde im Müller’schen Haus um den geschlossenen Sarg (Str. 2, 11) versammelt und Abschied von dem nach kurzer Krankheit verstorbenen Fünfjährigen nimmt. Das Gedicht weist eine klare Rahmenstruktur auf: Ausgangspunkt ist eine Reflexion über die Unsicherheit des menschlichen Lebens, das jederzeit vom Tod bedroht ist (Str. 1–4). Die folgenden Strophen beschwören den Verstorbenen in häuslichen Szenen seines kindlichen Alltags, die Opitz aus eigener Erinnerung schöpfen mag, bis hin zum Moment des Todes (Str. 5–7). Vor den Augen der Versammelten erscheint der anmutig schöne Knabe (v. 36: »Jungfraw-schönen Wangen«) beim Spiel, beim Aufsagen von z. B. Versen, am Tisch der Familie. Die Strophen acht bis elf schließen den Rahmen, indem sie erneut eine religiöse Perspektive eröffnen und schließlich die Hinterbliebenen, Eltern wie Großeltern, trösten. Mit den letzten Worten legt der Dichter sein »Kräntzlein« (v. 62) – d. h. das Epikedion, konkret: den Druck – auf den (geschlossenen) Sarg des Jungen nieder: Wie Frühlingsblumen sei das Leben des Kindes verwelkt; im Gegensatz dazu werde die Dichtung (v. 66: »Der schrifften Früling«) ewig fortdauern. Der Hinweis auf die Unzerstörbarkeit des gedruckten Textes schließt zugleich ein Lob des Vaters Müller ein.
Frank, Horst Joachim: Handbuch der deutschen Strophenformen. Tübingen / Basel 21993.
Garber, Klaus: Das alte Breslau. Kulturgeschichte einer geistigen Metropole. Köln u. a. 2014.
Hasenfratz, Hans-Peter u. a.: Tod. In: TRE 33 (2002), S. 579–638.
Holtz, Gudrun: Die Nichtigkeit des Menschen und die Übermacht Gottes. Studien zur Gottes- und Selbsterkenntnis bei Paulus, Philo und in der Stoa. Tübingen 2017.
Hünemörder, Christian: Myrte. In: DNP online 2006 http://dx.doi.org/10.1163/1574-9347_dnp_e814630 [30. 5. 2018].
Müller, Markus: Martin Opitzens Trostschrift an David Müller. Erinnerungsversuch eines Textes an sich selber. In: Mirosława Czernacka u. a. (Hrsg.): Memoria Silesiae. Leben und Tod, Kriegserlebnis und Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Wrocław 2003, S. 327–339.
Wiedemann, Barbara: Mit barer Münze. Überlegungen zum funktionalen Regelverstoß bei Martin Opitz. In: Klaus Garber (Hrsg.): Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Bd. 2. Tübingen 2005, S. 955–1024.
[E2v]
Auff Herren David | Müllers geliebten Söhn-| leins Davidts Begräbnüß.
WEr jhm ein langes Ziehl bestimmt⧸Vnd nach was siehet das erst kömpt⧸Der lasse seine Hoffnung bleiben:Wir dencken auff das Leben hier⧸Jn dessen tritt der Todt herfürDer alles diß kan hintertreiben.
5
Herr Müller⧸ ewer Trost vnd lust⧸Der liebe Sohn⧸ der nichts gewustVom kranck-sein noch vor Vieren Tagen⧸Soll jtzundt (O wie bald zerreißt Diß gute was man Leben heißt !)Jm Sarche werden hin getragen.
10
Er grünte minder nicht herfürAls eines Myrtenbawmes Ziehr⧸Auff den die Nymfen fleißig giessen⧸Vnd hoffen vmb jhr keusches HaarBey einer frewden-vollen ScharDas wol geschmacke Laub zu schliessen.
15
Baldt wann deß Windes Zorn sich regt⧸Vnd in die schwachen äste schlegt⧸So felt die edle Staude nieder:Die armen Nymfen stehn betrübt⧸Vnd sehn wie diß was sie geliebtVerwelcken muß⧸ vnd wächst nicht wieder.
20
25
So jhr⧸ jhr Eltern (dann jhr auch⧸O Mutter ⧸ wider den gebrauch⧸Nicht könnet einen Stieffsinn tragen)Wohin jhr das Gesichte lencktDa schawt jhr etwas das euch krenckt⧸Vnd anlaß giebet mehr zu klagen.
[E3r]
30
Hier hat das trewe Kindt gespielt⧸Geritten⧸ auff den Zweck geziehlt⧸Geschertzt vnd frewden angefangen:Da lieff er wann er lustig warDaß daß jhm sein langes gelbes Haar Flog vmb die Jungfraw-schönen Wangen.
35
Hier hat er⧸ eh er ward gefragt⧸Mit lust vnd willen auffgesagt⧸Da kam er an den Tisch getretten;Hier lag er für der letzten ruhe⧸ Vnd ruffte seinen Schwestern zu: (O Trost !) jhr Kinder⧸ kompt zum beten.
40
Zum beten kommen⧸ liebes Kindt⧸Diß ist es was die Strasse findtAuff der man kan zum Himmel kommen; Diß ist es was der haben wilDer zwar dich durch ein kurtzes Ziehl⧸Doch selig hat hinauff genommen.
45
Der Mensch das Jrrliecht dieser Zeit⧸Die eingefleischte Nichtigkeit⧸ Lebt nie⧸ vnd wil doch täglich leben:Mein David⧸ dem der leben kan⧸Vnd also stirbt wie du gethan⧸Wird Lob von GOtt vnd vns gegeben.
50
55
Die Eltern doch beweinen dich⧸ Die Elter-Eltern härmen sich⧸Weil viel Trost wird mit dir begraben:Sie wüntschen auch bey dir zu sein⧸Vnd scharren dich mit Thränen einAls jhrer Liebe letzten gaben.
[E3v]
60
Jch⧸ kleiner Freundt⧸ verehre dirAuff deinen Sarch diß Kräntzlein hierDas ich für Leide kaum kan winden:Die andern Blumen sind wie du⧸Sie blühen vnterm blühen zu; Der schrifften Früling wird nicht schwinden.
65
Martin Opitz.
Titel: Jm Jahr⧸ 1631. a 2 sihet a 10 jetzundt a 12 hingetragen a 15 fleissig a 18 wolgeschmacke a
1 jhm] sich.
1 WEr jhm ein langes Ziehl bestimmt] In der Bibel wird wiederholt die natürliche Grenze des Lebens betont. Einige Stellen (vgl. Jes 40, 6 f.; Ps 39, 5 f. 90, 5 f. 103, 15 f.; Ijob 14, 1 f.; Koh 3, 2) weisen aus, dass »Vnser Leben wehret siebenzig Jar⧸ wens hoch kompt so sinds achtzig jar […].« (im Wortlaut Ps 90, 10; vgl. Hasenfratz 2002, 579).
4 Wir dencken auff das Leben hier] Das irdische Leben im Gegensatz zum ewigen Leben bei Gott.
6 hintertreiben] zunichtemachen.
14 Als eines Myrtenbawmes Ziehr] In der griechischen Mythologie ist das immergrüne Gewächs Aphrodite, der Göttin der Liebe und Schönheit, geweiht. Myrtenzweige gelten als Symbol der Jungfräulichkeit, Lebenskraft und vieler gesunder Kinder, aber auch der über den Tod hinausgehenden Liebe. Ursprünglich wurde Myrte für Totenkränze verwendet (vgl. Hünemörder 2006).
15 f. Auff den die Nymfen fleißig giessen … vmb jhr keusches Haar] Myrte wurde neben dem Totenkranz als Zeichen für Jungfräulichkeit im Brautkranz verwendet.
18 wol geschmacke] wohlriechend. Vgl. DWb 5, 3932. Myrte dient auch als Heil- und Gewürzpflanze. Sowohl die Beeren als auch das Laub fanden Verwendung als Pfeffersubstitut.
21 fellt a 26 Muter a 40 rhue a
26 f. O Muter … Nicht könnet einen Stieffsinn tragen] Die leibliche Mutter, Maria geb. Rhenisch, war bereits 1628 zur Leipziger Buchmesse verstorben. Opitz spricht hier den Vater, David Müller, und dessen dritte Ehefrau Martha Heine an. Diese war die Tochter eines Breslauer Handelsmannes, die der Witwer ein halbes Jahr nach Marias Tod heiratete (vgl. Müller 2003, 335 f.).
28–30 Wohin jhr das Gesichte lenckt … anlaß giebet mehr zu klagen] David Müller d. J. ist nicht der erste Todesfall in dieser Familie, zuvor waren bereits die Kinder Karl Sigismund († 1628) und Anna Magdalena († 1622) sowie deren Mutter Maria, geb. Rhenisch († 1628), gestorben.
50 Die eingefleischte Nichtigkeit] D. h. in Fleisch gehüllte, vgl. lat. incarnatus. Es geht jedoch nicht nur um die Vergänglichkeit des Menschen, sondern auch um seine Stellung im Verhältnis zu Gott. Zahlreiche Bibelstellen widmen sich der Nichtigkeit des Menschen im Vergleich zur (Über)Macht Gottes (vgl. 1 Kor 1, 26–31; 2 Kor 12, 9 ff. Vgl. auch Holtz 2017, 193 ff.). Auch Ps 39, 6 mag hier eingeflossen sein: »Sihe⧸ meine Tage sind einer hand breit bey dir⧸ Vnd mein Leben ist wie nichts fur dir⧸ Wie gar nichts sind alle Menschen⧸ die doch so sicher leben⧸ Sela.«
56 Die Elter-Eltern härmen sich] Zumindest von David Rhenisch, dem Großvater mütterlicherseits, ist bekannt, dass er den Enkel, wie auch die ersten beiden verstorbenen Enkel und seine Tochter, überlebte. Ihn spricht Opitz gesondert in einem Trauergedicht an und entschuldigt dort seinen Freund, der nicht bei der Beerdigung des Sohnes anwesend sein konnte (vgl. GW 4, 1, 214 – 216).
64 f. Die andern Blumen sind wie du⧸| Sie blühen vnterm blühen zu] Vgl. Ijob 14, 2: »Gehet auff wie eine Blume vnd fellet abe⧸ Fleucht wie eine Schatten⧸ vnd bleibt nicht.«
62–66 Auf deinem Sarch … Der schrifften Früling wird nicht schwinden] Das »Kräntzlein« bezeichnet das Epikedion, d. h. den Druck. Die Kranzmetapher ist seit der hellenistischen Dichtung (»Kranz des Stephanios«, »Kranz des Meleager«) für poetische Zyklen gebräuchlich. Für Opitz besteht die Autorität und Qualität der Dichtung v. a. in ihrer Schriftform; dies stellt gleichzeitig die Wendung zum Beruf des Vaters her.